Presseporträts

Le monde de l'éducation - 2008 - "Zeit der großen Einsamkeit"

Mit siebzehn ging ich in die Schule aus reiner Gewohnheit, zerstreut, so wie man in den Bus steigt. Mich begeisterten ganz andere Sachen: Ich hörte leidenschaftlich gerne Musik, widmete mich intensiv dem Klavierspiel, verschlang Romane, entdeckte die Philosophie, spielte Theater und träumte von heißen Affären, die niemals kamen. Fast zufällig wurde ich mir einige Wochen vor den Prüfungen bewußt, daß ich ja noch mein Reifezeugnis abzulegen hatte. Auf einmal bekam ich es mit der Angst zu tun: Was, wenn ich durchfallen würde? Was, wenn ich es nicht schaffen würde, mir diese Eintrittskarte ins Erwachsenenleben anzueignen?

Mit einem zu Extremen neigenden Temperament ausgestattet, reagierte ich umgehend: Ich schloß mich in mein altes Spielzimmer ein, ein frisches, halb vergessenes Zimmer, schloß die Fensterläden und verbot meiner Familie den Zutritt: "Ich lerne", verkündigte ich Ihnen, um meinen Sinneswandel zu erklären. Die Gelassenheit wich der Angst, ich arbeitete nun Tag und Nacht, magerte ab, erbrach mich vor den Prüfungen, sprang aus dem fahrenden Auto, um der Klausur in Geschichte und Geographie zu entgehen, trat stammelnd, mit feuchten Händen und schweißnassen Achseln die obligatorischen mündlichen Prüfungen an.

Kaum war alles überstanden, wandte ich dem ganzen Rummel den Rücken, erschöpft, ohne mir das Datum zu merken, an dem die Ergebnisse bekannt gegeben werden sollten. Ein Buch lenkte mich dann vollends vom stumpfen Warten ab: Ich entdeckte Auf der Suche nach der verlorenen Zeit für mich. In diesem Juni 1978 erfüllte Proust meine Tage, bewegte Proust meine Phantasie; sein Buch nahm mich so in Beschlag, daß ich mich ganz aus der Welt zurückzog; doch wie anders war dieser Rückzug diesmal.

An einem Montag wurden dann die Ergebnisse ausgehängt, ich dachte nicht einmal mehr daran, so vertieft war ich in Albertine disparue. Tags darauf wurde ich von meinen Großeltern, Onkeln und Tanten geweckt, sie waren gekommen, um mir zu meiner Note, einer "Sehr gut", zu gratulieren. Sie hatten sie in Le progrès entdeckt, in jener Lyoner Tageszeitung, in der traditionell die Abschlußergebnisse unseres Schulbezirks veröffentlicht werden. Doch ich erfuhr nicht nur mein Prüfungsergebnis, zur gleichen Zeit trat auch die Haltung meiner Kameraden zutage, die sich nicht die Mühe gemacht hatten, mich tags zuvor zu benachrichtigen.

So mischte sich die Freude darüber, bestanden zu haben, mit Bitterkeit: Mir wurde bewußt, wie einsam ich war. Der vertraute Umgang, den wir jahraus, jahrein gepflegt hatten, hielt dem Neid nicht stand. Wenn sich auch niemand vorgestellt hatte, daß ich das Datum vergessen hatte - ich gebe zu, daß das unwahrscheinlich scheint - hatte mich deswegen doch niemand angerufen. Auf einmal über sie hinausgewachsen, wurde ich von den ersten Telefongesprächen ausgeschlossen. Damals ging mir der Unterschied zwischen Freundschaft und Kameradschaft auf: Die Kameradschaft hält nur in geteilten Lebenslagen, die Freundschaft aber besteht auch außerhalb bestimmter Lebenslagen fort. Die Kameradschaft wird durch Gleichheit genährt, die Freundschaft verkraftet auch das Außergewöhnliche.

So suchte ich in meinem Erfolg auch nicht den Ruhm: Ich fühlte, daß es eitel war, ihn teilen zu wollen, und lächerlich, mich dafür beglückwünschen zu lassen. Ich verhielt mich genau so zurückhaltend, als wäre ich durchgefallen. Mein Prüfungsergebnis war nur meines, ging nur mich etwas an, hatte ausschließlich Bedeutung für meine eigene Lebensführung: Ich brauchte mich dafür nicht zu rühmen oder es vor den anderen herauszustreichen. Sobald wir in diesem Sommer wieder Kontakt miteinander aufnahmen, fanden meine Kameraden in mir einen sehr bescheidenen Zeitgenossen. Sie wunderten sich darüber; sie lobten mich dafür.

In Wirklichkeit war diese Bescheidenheit nur Augenwischerei. Die Abschlußprüfung und eine gehörige Dosis Proust hatten mich zu einem hellsichtigen Moralisten werden lassen: In der Einsamkeit gibt man seinem Leben eine Richtung; und von der Einsamkeit kann uns nur die Kunst heilen, wahre Freundschaft und die unwahrscheinliche, aber sich zuweilen verwirklichende Liebesgeschichte.

Psychologie - 2007 - "Ein hellsichtiger Optimist"

"Kann ich lieben? Jedenfalls nicht ‚entlieben". Ich bin unwiderruflich mit den Menschen verbunden, die ich mit den Augen der Liebe gesehen habe, kann meine Gefühle nicht auslöschen. Eine Trennung verändert das tägliche Erleben eines Gefühls, hebt es aber nicht auf. Dasselbe bewirkt der Tod mit einer kalten Grausamkeit; er hinterläßt uns: die Liebe und die Abwesenheit, die Liebe und die Unmöglichkeit, sie zu leben. Es gibt keinen Trost, man gewöhnt sich gerade mal an den Kummer. Eine Krankheit nahm mir die Frau, die ich zwischen zwanzig und dreißig liebte. Als sie starb, waren wir zwar schon seit einigen Jahren getrennt, doch war das eine seltsame Trennung: täglich hatten wir miteinander zu tun, schütteten uns gegenseitig unser Herz aus, standen uns weiterhin mit Rat und Tat zur Seite. Wir waren Freunde, bevor wir zu Liebhabern wurden, und zu Freunden sind wir wieder geworden. Von der Stärke des Bandes, das uns einte, waren wir selbst überrascht, als wir es unseren neuen Lebenspartnern aufdrängten, und wir hatten unseren Spaß daran, uns unsere alten Tage im Licht dieser so sperrigen Neigung vorzustellen.
Dann ist sie fort.
Es kam mir zunächst so vor, als habe sie unsere Erinnerungen mit sich genommen. Über Jahre hinweg fand ich keinen Zugang mehr zu der glücklichen Zeit, die wir zusammen erlebt hatten. Ich konnte mich nur noch an wenige unangenehme Einzelheiten entsinnen. Nur bittere Erinnerungssplitter vermochten dem schwarzen Loch zu entweichen, das in meinem Gedächtnis klaffte. Ich machte mir deshalb Vorwürfe, konnte nicht begreifen, daß mein Verstand ganz einfach eine Strategie entwickelt hatte, damit ich nicht zu sehr zu leiden brauchte, eine Strategie, um mich davon zu überzeugen, daß ich im Grunde nichts verloren hatte.

Ich hatte nicht mit der Musik gerechnet. Da wir viele Werke gemeinsam gespielt und angehört hatten, wurde ich, hörte ich die Stücke wieder, manchmal auf abrupte Weise mit unserer heilen Vergangenheit konfrontiert. Ich brach dann in Weinkrämpfe aus. Es war das reine Elend, geballt, abgrundtief. Mehrere Jahre mußten vergehen, bis ich allmählich akzeptieren konnte, daß die Vergangenheit Vergangenheit ist, daß sie schön, einzigartig war, aber niemals wiederkehren würde. Von da an ließ ich den Kummer zu und beschloß, bis zu meinem letzten Atemzug mit ihm zu leben. Auch wenn die Tage bürdevoller sind - dadurch erhält die Leichtigkeit, der Humor erst den rechten Wert -, auch wenn sich mein Lachen auf einem melancholischen Gesicht abzeichnet: ich habe nicht nur das Schicksal akzeptiert, sondern auch das Tragische, das Unbequeme, das das Schicksal bereithält.

Was lernen wir aus dem Tod eines Menschen, den wir lieben? Was, wenn nicht dies: daß wir nicht damit warten sollen denen, die noch leben, zu sagen, daß wir sie lieben. Ich empfinde heute wieder Freude am Leben. Doch im Gegensatz zu früher ist das keine unbewußte, sondern eine bewußte Freude.

Ich habe das Unglück ausgepreßt, bis ich eine unerwartete Essenz daraus zog: den Optimismus, einen hellsichtigen Optimismus, Ergebnis einer bitteren Diagnose, die das Böse nicht aussparte, über Vergangenes und Künftiges keine Illusionen zuließ. Der bewußte Optimismus desjenigen, der, soweit es irgend möglich ist, die Tränen durch ein Lächeln vertreibt."

Les Cahiers de la Maison Jean Vilar - 2007 - Der Fluch des Erfolges

Welcher Welt zugehörig ist ein vielseitiger Autor, der Romane schreibt, Essays verfaßt und weltweit gespielte Theaterstücke? Der Welt des Marktes mit ihrer endlosen Folge von Schnödigkeiten oder der über allen Nichtswürdigkeiten erhabenen Welt der Kultur?

Ist Éric-Emmanuel Schmitt - der wie andere auch mehr oder weniger durch die Medien bekannt ist - zum großen Spagat zwischen Popularität und Populismus, Können und Kompromiß verdammt?

Mein erstes Stück schrieb ich aufgrund eines Mißverständnisses, aus einer Laune heraus. Man macht manchmal Gutes aus einem schlechten Grund. Mit der Theater-AG meines Gymnasiums hatten wir Antigone von Anouilh aufgeführt. Ich hatte die Rolle des ersten Wächters. Als die Aufführung vorbei war, sagten die anderen: "Schmitt hat irgend etwas erfunden, bloß um das Publikum zum Lachen zu bringen". Das stimmte nur teilweise. Aber es traf mich dermaßen, daß ich das Wochenende darauf mein erstes halboffizielles Stück schrieb: Grégoire oder Warum die Erbsen grün sind?; woraus sehr schön erhellt, daß ich bereits damals einen Sinn für die wesentlichen Fragen hatte. Zu dieser Zeit war ich sehr inspiriert vom Theater eines René de Obaldia, eines Vitrac ebenfalls. Ich ließ noch allerhand Einflüsse von außen auf mich wirken, ich war damals sechzehn Jahre alt. Mein Stück wurde dann am Gymnasium aufgeführt. Ich leitete die Inszenierung, gestaltete das Bühnenbild und hatte auch eine Rolle für mich reserviert. Sowie ich sah, daß das im Mikrokosmos der Schule funktionierte, daß die Leute glücklich waren, sagte ich mir: "Das ist mein Weg, das will ich machen." Übrigens hatte ich seit meiner Kindheit, seit ich eine Aufführung von Cyrano de Bergerac gesehen hatte, eine wahre Leidenschaft fürs Theater entwickelt. Danach verlor ich diese Berufung öfters wieder aus den Augen. Freilich hörte ich während meines Studiums an der École Normale Supérieure und sogar in der Zeit, als ich mich auf meine Agrégation für Philosophie vorbreitete, nie auf zu schreiben. Damals hielt ich mich für Claudel, da hatte ich mich ganz schön in etwas verrannt! Ich hatte noch nicht begriffen, daß man der Schriftsteller sein muß, der man ist, und nicht der Schriftsteller, der man sein will. Ich hatte zunächst versucht, der Schriftsteller zu sein, den ich zu sein erträumte, das heißt ein anderer. Ich glaubte insbesondere, ich wäre ein großer Lyriker, glaubte, ein poetisches Theater zu machen. In Wirklichkeit trampelte ich wie ein Elefant auf Claudels Spuren! Was ich damals schrieb, war absolut schauderhaft, und ich war hellsichtig genug, mir dessen bewußt zu werden. Zudem sagte er mir eines Tages eine Freundin: "Du träumst davon, Claudel zu sein; und was, wenn Du eigentlich Sacha Guitry bist?" Was ich offensichtlich auch nicht bin! Doch diese Bemerkung war für mich ein wahrer Befreiungsschlag. Sie wirkte wie ein Aufruf: Werde das, was du bist, werde du selbst.

So führte ich also zwischen zwanzig und dreißig Jahren einen innerlichen Kampf um mein geistiges Gleichgewicht. Einerseits war ich von Kindheit an ein spontaner Schriftsteller, mit einer wirklichen Phantasie begabt, anderseits ein Philosoph mit der Fähigkeit zu Analyse und Synthese. Wenn ich schrieb, war ich entweder der eine oder der andere, nie beide zugleich. Mit neunundzwanzig, dreißig Jahren gelang es mir dann mit La Nuit de Valognes, diese beiden Aspekte miteinander zu vereinen, dann kurz darauf auch mit dem Besucher.

Als ich Philosophie lehrte, sprach ich meinen Studenten viel von Theater. Ich zog in meinen Kursen Beispiele von Sophokles heran, dessen Stücke ich über alles liebe, auch von Shakespeare. Hinter dieser Lehrpraxis begann sich ein tieferer Grund zu offenbaren, den ich heute klarer beschreiben kann: Die Philosophie versucht zu vereinfachen, die Literatur zu verkomplizieren. Das Theater entsteht bekanntermaßen im fünften Jahrhundert vor Christus mit Aischylos, Euripides und Sophokles; zur selben Zeit wie die Philosophie. Doch diese tendiert dazu, eine, und zwar eine einzige Wahrheit zu propagieren, tendiert dazu zu vereinfachen, zu sagen: "Seht hier, das ist die Struktur des Reellen", während zur selben Zeit das Theater mit Antigone und Kreon die Tragödie hervorbringt: Es gibt zugleich zwei Wahrheiten, die nicht zusammenpassen. Das Theater vertritt von Anfang an eine Komplexität und widersteht den Vereinfachungen des Verstandes, während die Philosophie das Reelle erschöpfend darstellen will, indem sie es vereinfacht. Kurz, die Philosophie ist eindeutig, während die Literatur mehrdeutig ist.

Für mich stellt die Philosophie keinen Endzweck dar. Sie ist ein Instrument, mit dem das Leben beschrieben werden kann. Ich will aber den Geist nicht auf die bloße Ratio beschränkt wissen. Diesen Fehler begeht der Philosoph und Intellektuelle oft. Doch unser geistiges Leben wird auch bestimmt von der Vorstellung, dem Herz, dem Gefühl, von Werten. Die Verstandestätigkeit macht nur einen kleinen Teil davon aus. Deshalb fordere ich ein Theater der Emotion. Ich habe keine Angst vor Emotionen, ich sehe darin ein Moment, das auf unser intellektuelles Leben Einfluß hat. Große emotionale Erschütterungen können zu unserer Entwicklung beitragen. Und dann ist der emotionale "Theatercoup" auch ein spiritueller Theatercoup. Ich setzte den Theatercoup immer ein, um etwas anderes hinter der Emotion auszusagen, doch in deren Licht. Mit der Emotion nehmen Sie den Zuschauer an der Hand und auf intellektueller Ebene führen Sie ihn zu etwas anderem hin. Auch ein intellektuelles Theater muß sich auf Emotionen stützen. Man muß auch gefällig sein können. Sagten nicht Molière und Racine in ihren Vorworten, daß das Theater die Kunst des Gefallens sei? Und gefallen heißt nicht verführen, sondern den anderen respektieren, Interesse in ihm wecken wollen, ihn mitnehmen, ohne seine Hand loszulassen; und weiter: ihn bis zum Ende begleiten, bis hin zu einer Vision der conditio humana. Zu viele Autoren begnügen sich damit, Verwirrung zu stiften, und lassen einen dann auf halbem Weg stehen.

Ich empfinde meinen ersten Produzenten gegenüber noch immer ein großes Gefühl der Dankbarkeit. Jean-Luc Tardieu besorgte die Erstinszenierung von La Nuit de Valognes in Nantes, bevor das Stück in Paris erneut zur Aufführung gelangte; der mittlerweile verstorbene François Chantenay nahm sich des Besuchers an, in dem Maurice Garel und Thierry Fortineau mitwirkten, zwei hervorragende Schauspieler - freilich vermochten auch sie es nicht, die Ränge zu füllen: Der Besucher war zunächst ein schrecklicher Flop, bevor er mit drei Molières ausgezeichnet und auf der ganzen Welt aufgeführt wurde. Die erste Vorstellung besuchten nur zwei zahlende Zuschauer - meine Eltern!

Aus dem Theatermilieu erfuhr dieses Stück große Unterstützung, die Ränge füllten sich nach und nach, das Fernsehen tat schließlich ein Übriges zu seinem Erfolg. - Durch dieses Stück bin ich zum Dramatiker geworden. Jeder schien so überzeugt, daß ich ein Dramatiker sei, daß ich ihnen einfach glauben mußte. Ich kehrte der Universität schließlich den Rücken.

Der Erfolg war für mich nichts Selbstverständliches. Er war wie ein Geschenk, eine Gnade. Man ist zwar der Autor seiner Bücher, aber nicht seiner Erfolge. Dafür ist allein das Publikum, in zweiter Linie die Presse verantwortlich. Der Erfolg überrumpelt einen.

Was sich dadurch änderte? Ich wurde auf einmal mit Texten überflutet, die ich lesen sollte, sollte für unzählige Leute ein gutes Wort einlegen. - Wie man das erlebt? Mit dem Gefühl, daß das Ganze sehr schnell wieder vorbei sein kann. Wie das Leben eben!

Warum ich mich für das private Theater entschieden habe? Das war keine politische oder ästhetische Entscheidung, sondern recht eigentlich die Wahl eines Autors, der das Risiko auf sich nehmen wollte, direkt mit dem Publikum in Kontakt zu treten. Die Erstinszenierung von der Besucher hätte im kleinen Saal des Théâtre national de la Colline stattfinden können; Jorge Lavellei war damals Direktor. Doch ist im subventionierten Theater die Zahl der Aufführungen begrenzt, egal wie das Publikum oder die Kritik das Stück aufnimmt. In einem privaten Theater wird das Stück im Erfolgsfall so oft gespielt, wie es das Publikum sehen will. Der Besucher wurde so sechshundert Mal gespielt. Der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Theater ist nicht von ästhetischer Art. In bestimmten Ländern werden meine Stücke übrigens zuerst vom subventionierten Theater gespielt.

Auf den Rat meiner Umgebung hin, die aus jungen Leuten besteht, entschloß ich mich als einer der ersten Bühnenautoren dazu, eine eigene Website einzurichten. Das ist ein mächtiges Instrument, um mit Publikum und Presse in Verbindung zu treten. Das ist auch ein Entwicklungsfaktor, insbesondere auf internationaler Ebene. Doch die wichtigste Mittlerrolle übernehmen oft die Literaturagenten und die Übersetzer. Von Treue geprägte Beziehungen können sich auch zu Theaterdirektoren entwickeln. Das sind Wahlbeziehungen.

Der Erfolg im Ausland macht mir Mut, hilft mir, zu begreifen, wo ich stehe, was meine Arbeit ausmacht. Durch die Rezeption meiner Stücke in Deutschland wurden mir die Augen dafür geöffnet, was ich "Französisches" an mir habe. Sie wissen ja, daß die Deutschen frankophil sind, doch ein Philosoph, der sich dort im Theater produzieren würde, schriebe anders als ich. Er schriebe "ernsthaft"! Meine Mischung aus Ernsthaftigkeit und Phantasie, dieser Aspekt aus dem 18. Jahrhundert, der sich in den Erzählungen Voltaires oder den Komödien Diderots findet - obwohl ich mich natürlich nicht mit diesen beiden gleichsetze -, der darin besteht, daß die Anekdote in Reflexion übergeht, das Fehlen von gutem Geschmack, das am Ende wieder ein Geschmack ist, kommt ihnen sehr "französisch" vor; sie mögen das. Ich habe meine Doktorarbeit Diderot gewidmet, für den ich mich leidenschaftlich begeistere, und oft sage ich im Scherz zu meinen Freunden, daß ich der einzige noch lebende Autor des 18. Jahrhunderts bin!

Wir blicken heute auf vierzig großartige Theaterjahre zurück, in denen die Inszenierung im Mittelpunkt des Interesses stand. Dadurch gerieten die Autoren ein wenig ins Abseits. Wie kann man schließlich seine Arbeit als Theaterregisseur besser herausstellen als dadurch, daß man ein Stück von Molière oder Shakespeare neu inszeniert und ihm dabei seinen Stempel aufdrückt? So hat sich eine narzißtische Inszenierungskultur entwickelt. Ich würde sogar von einem Theatermanierismus sprechen. Die Leute drücken dem Tartuffe oder dem Hamlet ihren Stempel auf. Das ist interessant, aber auch dekadent. Etwas Neues kann nur von den Schauspielern oder den Autoren kommen. Freilich ist es heutzutage so, daß die Theater von Regisseuren geleitet werden; eine Ausnahme ist Jean-Michel Ribes, den ich bei seinem Wunsch, das Théâtre du Rond-Point zu leiten, unterstützte. Wenn die Theaterregisseure ihre Aufgabe ernst nehmen wollen, dann müssen sie Stücke lebender Bühnenautoren inszenieren. Wir sind jedenfalls da!

Meine Werke sind in fünfzig Sprachen übersetzt und in den jeweiligen Ländern veröffentlicht worden. Mit Theaterübersetzungen ist das so eine Sache. Man erfährt den Erfolg - so man ihn hat - mit anderen Worten als den seinen. Ich hatte damit insbesondere in den Vereinigten Staaten Probleme, dem einzigen Land, wo man einen Autor nicht übersetzen, sondern adaptieren will, das heißt, ihn amerikanisch machen will. Man bietet denen ein Steak an und sie machen einen Cheeseburger daraus! Genau das ist mir passiert. Seitdem bin ich ein bißchen starrköpfig geworden und verbiete praktisch alles. Oskar und die Dame in Rosa wird demnächst auf dem Broadway aufgeführt, diesmal wurden meine Wünsche berücksichtigt. Man muß standhaft bleiben, darf nicht nachgeben.

In diesem Zusammenhang erlebt man auch manchmal drollige Geschichten. Das türkische Nationaltheater wollte den Besucher aufführen. In der Mitte des Stücks drückt Freud seinen tiefen Atheismus aus, seine Unfähigkeit zu glauben, seine Rebellion gegen Gott. Er tut das auf wirklich sehr drastische Weise. Der Theaterdirektor rief mich an und fragte mich, ob man diese Passage nicht auslassen könne. Er fürchtete, daß die Zuschauer ihm die Sitze anzünden würden. Ich antwortete ihm: "Aber hören Sie mal, danach kommt ja auch noch die Antwort von Gott..."; worauf er: "Die werden nicht erst eine halbe Stunde warten!" Ich beendete das Gespräch mit den Worten: "Dann spielen Sie das Stück eben nicht!" Schließlich wurde es drei Jahre später doch aufgeführt, und es war ein voller Erfolg. Entweder war das Publikum ein anderes geworden oder der Direktor...

Aufgezeichnet von Rodolphe Fouano
Les Cahiers de la Maison Jean Vilar, Nr. 104, November 2007

Lire - 2004 - Untergrundphilosoph

Nach Buddhismus, Islam und Atheismus lotet Éric-Emmanuel Schmitt in einer philosophischen Erzählung nun die Beziehungen zwischen Juden und Christen aus. Genial.

In Frankreich ist der Erfolg suspekt. Nicht daß man die Gefahren des inneren Ungleichgewichts fürchtete, das großen Siegen stets folgt, nicht daß man vor dem fruchtlosen Stillstand Angst hätte, der fast unweigerlich mit Erfolgen einhergeht. Nein, nichts von alledem. Der Erfolg stört, weil es in den sogenannten meinungsbildenden Kreisen leider zum guten Ton gehört, das niederzumachen, was man zuvor über den grünen Klee lobte. Hat sich Éric-Emmanuel Schmitt deswegen zuerst in Irland, dann in Belgien, wo er seitdem lebt, ein freiwilliges Exil verordnet, um dieser französischen Manie zu entkommen? Als er sein erstes Theaterstück, La Nuit de Valognes, veröffentlichte, begrüßte die Kritik einhellig den neuen Autor. Das war 1991. Zwei Jahre später brachte dem ehemaligen Philosophiedozenten Der Besucher, eine verblüffende Begegnung zwischen Freud und Gott, drei Molières ein. Es folgte mit der Schule der Egoisten ein erster Roman, der auch die Skeptiker vollends überzeugte: dieser Schriftsteller vermochte alles - Geschichten erzählen und Ideen vermitteln. Da entschied man dann, daß er lästig sei. "Schmitt ist ein Populärintellektueller", ließ eine Literaturkritikerin während einer nicht weniger populären Radiosendung verlauten. Doch sollte man diese bissige Bemerkung nicht eher als Kompliment auffassen? Éric-Emmanuel Schmitt ist Diderot im 21. Jahrhundert: ein ernsthafter Denker, der sich selbst nicht zu wichtig nimmt. Übrigens widmete er dem freidenkerischen Ästheten, der mitten im sogenannten Zeitalter der Aufklärung, zu behaupten wagte, er schreibe populärphilosophische Aufsätze, seine Doktorarbeit und ein Theaterstück.

Das Publikum freilich ließ sich nicht beirren. Heute werden die Stücke von Éric-Emmanuel Schmitt auf der ganzen Welt gespielt, seine Romane erreichen schwindelerregende Auflagenhöhen (zwischen 200000 - Das Evangelium nach Pilatus - und 400000 - Oskar und die Dame in Rosa - verkaufter Exemplare), er ist Unterrichtsthema im Gymnasium, über sein Werk werden hochgelehrte Abhandlungen geschrieben, und einer Marktstudie der amerikanischen Zeitschrift Publishing Trends zufolge gehört er zu den fünfzehn weltweit meistgelesenen Autoren - er ist der einzige französische Autor, der in dieser Bestenliste Erwähnung findet.

Was hat sich zwischen La Nuit de Valognes und dem Kind von Noah geändert? Sind die Themen auch die gleichen geblieben, so hat sich doch sein Stil gewandelt. "Das stimmt", pflichtet Éric-Emmanuel Schmitt bei. "Ich begann wie ein Gelehrter zu schreiben, heute versuche ich, mich dieses Erbes der École Normale Supérieure zu entledigen, versuche, das richtige Wort zu finden, ungekünstelt zu schreiben. Text ist für mich gleich Rede." Das ist es also: der Brückenschlag zwischen Dramatiker und Romancier. "Mein Leben lang wurde mir erklärt, daß ich nicht so schreibe, wie ich schreiben solle. Das fing in der Schule an, und als ich dann Theaterstücke und Romane schrieb, war es dasselbe." Seine Texte bringen einem in der Tat aus dem Konzept: Von einer Tiefe, die von einem lustvoll-spöttischen Hedonismus verdeckt wird, schwanken sie zwischen philosophischer Abhandlung (Adolf H.- Zwei Leben) und Possenspiel (Als ich ein Kunstwerk war). Romane an der Grenze zum Genre Roman. Die kurzen Bände, die den Zyklus des Unsichtbaren bilden, zeigen das sehr schön.

Das Kind von Noah nun ist der vierte Band des Zyklus. Auf den ersten Blick mag die Geschichte sehr glatt erscheinen: Ein siebenjähriger jüdischer Junge wird während der Besatzungswirren von einem Pfarrer aufgenommen, der ihn in einer katholischen Schule versteckt und ihm Hebräisch beibringt. Man liest von einem Rohling mit weichem Herzen, einem guten Pater, der Mitglied im Widerstand ist, und einer zur Synagoge umfunktionierten Krypta  ("ein wahres Detail", erklärt Schmitt). So weit so gut. Da könnte man sich ja auf das Schlimmste gefaßt machen. Doch das hieße, nicht mit dem Können des Autors rechnen. Die Religionen zu hinterfragen liegt derzeit im Trend, doch ihre Widersprüchlichkeiten herauszustellen, ohne dabei in Bekehrungseifer zu verfallen, ist eine Übung, auf die sich nur wenige Schriftsteller bisher verstanden haben. Als Schüler von Diderot bis in die Fingerspitzen hat Schmitt folgerichtig die Form der philosophischen Erzählung gewählt, um über die Religionen zu schreiben, deren Gott abwesend ist. Nach Buddhismus (Milarepa), Islam (Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran) und Atheismus (Oskar und die Dame in Rosa) lotet er in diesem Band die Beziehungen zwischen Juden und Christen aus. Das Entscheidende bei ihm: Während konformistisch-konventionelle Vorstellungen dahin gehen, daß es Aufgabe der Eltern sei, alle Fragen ihrer Kinder über die Religion zu beantworten, stellt Schmitt sich das Gegenteil vor: das Kind geht bei ihm selbständig auf die Suche; es werden mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben. Die Kinder bei Schmitt wirken nie läppisch-naiv, verfallen nie in PoliticalCorrectness. Zwar stehen Momo (der kleine jüdische Junge, der ständig mit dem alten arabischen Lebensmittelhändler zusammensteckt), Oskar (der im Krankenhaus liegt und von der Frau in Rosa fasziniert ist) und Joseph (der Jude, der sich als Christ verkleidet, um der Deportation zu entgehen) außerhalb der religiösen Traditionslinie ihrer Vorfahren, doch dient diese offensichtliche Randständigkeit nur einem Zweck: dem Gedanken Nachdruck zu verleihen, daß hier auf Erden niemand der Verantwortung enthoben ist, Schöpfer seiner selbst zu sein. Dazu der Landpfarrer in  Das Kind von Noah  in einem pascalschen Diskurs, der in seiner Eindringlichkeit jede Katechismusstunde aufwiegt: "Die Menschen tun sich gegenseitig Böses, doch Gott mischt sich da nicht ein. Er hat die Menschen frei geschaffen [...]
Gott hat seine Aufgabe vollendet. Jetzt sind wir dran. Wir sind für uns selber verantwortlich." Vater Pons glaubt, daß er aus christlicher Nächstenliebe Gutes tut; dank des kleinen Joseph wird er erfahren, daß er nicht gut, sondern gerecht ist. Schmitt präzisiert in wenigen fulminanten Zeilen das Wesen dieses grundlegenden Unterschiedes, der an Sartre gemahnt. Seine Erzählungen kommen ohne moralisierende Belehrung aus, die Dialoge sind ausgefeilt, ohne gekünstelt zu wirken. Schmitt deutet mehr an als daß er beschreibt, und er bringt seine Leser dazu, über ihre Alltagsidentität hinauszugehen. Vater Pons (man denkt an Pontius Pilatus) ist eine Figur der Hoffnung. Er verkörpert denjenigen, der, von der Rationalität ausgehend, die Spiritualität entdeckt. Das Kind von Noah, diese Erzählung aus Besatzungszeiten, wird den Leser nicht so schnell loslassen. Éric-Emmanuel Schmitt stellt erneut seine schriftstellerischen Qualitäten unter Beweis. Einmal mehr spielt er mit den Genres und begründet dabei die Untergrundphilosophie.

François Busnel

Le Figaro - 2003 - Der Junge, der von woanders war

Er lebt schon seit eh und je in einer Welt, die er sich nach eigenem Maßstab eingerichtet hat, in einer Welt der Musik und der Philosophie.

Ihn zeichnet vor allem die Sanftheit aus. Ein äußerste Sanftheit, die sein ganzes Wesen umgibt. Diese Naturgewalt mit den breiten Schultern eines Rugbyspielers, dem vollen Gesicht mit der hohen Stirn, der Glatze, die nicht von gestern ist, den dunklen Augen und den Grübchen, der gebrochenen Nase, die von einem Boxkampf herrührt, strahlt eine gewisse herrschaftliche Autorität aus. Dabei ist doch genau das Gegenteil wahr. Éric-Emmanuel Schmitt ist ein zartbesaiteter, ja verletzlicher Mensch, der seine Empfindsamkeit akzeptiert hat. Man kann die Statur eines Athleten haben und muß darum noch lange nicht die Muskeln spielen lassen.

Die Muskeln bei ihm oder vielmehr die Kraft ist eher intellektueller Natur. Und was für eine Kraft das ist! Doch auch hier gilt wieder: Nie führt er sich wie ein Lehrmeister auf, nie kehrt er ein arrogantes Wesen nach außen. Er lebt eben schon seit eh und je in einer Welt, die er sich nach eigenem Maßstab eingerichtet hat, in einer Welt der Musik und der Philosophie, in einer Welt, die sich nie mit den banalen Äußerlichkeiten zufriedengegeben hat. Einer Welt oder eher einem Himmel. Reine Bläue, Azurbläue, vorbeiziehende Wattewölkchen, sternübersäte Nacht. Und die Sterne am Himmel dieses träumerischen Knaben - von ihm sind keine Fotos als Kind bekannt, doch drängt sich einem das Bild des Kleinen Prinzen auf, der heute zu einem Mann voller Kraft herangewachsen ist -, seine Sterne am Himmel rauschen als wären sie aus Satin.

Kein Wunder also, daß in einem solchen Himmel eine Fee auftritt. Sie ist groß, strahlend schön und zart. Sie heißt Edwige Feuillère. Sie ist eigentlich nicht mehr "wirklich" da, doch sicherlich war sie ihm noch nie so nah - eine Fürsprecherin wie im Märchen. Ihr schickt er sein erstes Theaterstück. Er kennt sie nicht persönlich. Er hat sie im Kino gesehen. Sie, die den anderen gegenüber so aufmerksam ist, so wunderbar einfühlsam, begreift, daß in La Nuit de Valognes das zukünftige Werk im Keim vorhanden ist. Die Fee Edwige hat keinen Zauberstab, kein Wunderpulver. Doch sie hat Herz, das heißt Mut. Sie läßt bei den Theaterdirektoren, die nicht immer die eifrigsten Leser sind, nicht locker. Und wie könnte man auch der Überzeugungskraft der schönen Fürsprecherin lange widerstehen? So wird das Stück 1991 in der Maison de la culture de Loire-Atlantique aufgeführt. Jean-Luc Tardieu ist die treibende Kraft dieser Institution, er inszeniert das Stück und leitet die Schauspieler, insbesondere Micheline Presle, Danièle Lebrun und Mathieu Carrière. An der Comédie des Champs-Elysées gelangt das Stück dann erneut zur Aufführung. Die Kritik ist nicht allseits hellauf begeistert. Heute sagt Éric-Emmanuel Schmitt darüber, in Lachen ausbrechend: "Die Kritiker hatten nicht Unrecht, es war nicht das beste Stück." Jedoch immerhin. Für ein Erstlingswerk ist die Besetzung nicht schlecht, könnte man meinen. Seitdem ist es der Wunsch vieler ganz großer Darsteller, in Frankreich wie überall auf der Welt, in einem Stück von Schmitt mitzuwirken. "Das ist gewiß von allen Glücksfällen, die mir begegnet sind, der größte", sagt er. Er hat etwas Unverfälscht-Entwaffnendes an sich.

Es ist einige Jahre her, als alles begann. Schmitts Zeit auf dem Gymnasium. Da ist er siebzehn, ein sehr ernster Junge. Es zieht ihn schon damals zur Bühne. Die schuleigene Theatergruppe führt Antigone von Jean Anouilh auf. Er spielt den Wächter. Und was kommt dabei heraus: er bringt die Zuschauer zum Lachen! Die Lachsalven sind Schmitt im Ohr geblieben: Wenn auch der Sinn für das tragische Element des Daseins in diesem Zögling Pascals immer vorhanden ist, liebt er doch nichts so sehr als die Menschen zum Lachen zu bringen  "Ich weiß wohl", sagt er, "daß es zuweilen besser ist, die Leute zu Tode zu langweilen als zu zerstreuen und daß man noch nie jemandem Vorwürfe gemacht hat, der sich nicht immer für die Leichtigkeit entscheidet ..."  Er lacht. Er weiß sehr wohl, daß empfindliche Naturen gewisse Szenen in Der Freigeist nicht sonderlich schätzten und daß der Film, den Gabriel Aghion nach dem Stück drehte, prüden Geistern nicht gut bekam. Doch dabei ist Schmitt nicht stehengeblieben. Durch seine Stücke und Bücher hat er bewiesen, daß er vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten besitzt, vielerlei Inspirationsquellen nutzt und sein Stil vielschichtig ist. "Es ist merkwürdig", notiert er, während eines kurzen Aufenthaltes in Paris, wo er sich wieder dauerhaft niederlassen will, "in dem Maße, in dem das Publikum in der Lage ist, einem Schriftsteller auch auf sich verzweigenden Wegen zu folgen, in dem Maße haben die professionellen Beurteiler Schwierigkeiten, Schritt zu halten. Man sollte am besten in seiner Schublade bleiben, auch auf die Gefahr hin, daß man zehn Mal dasselbe Stück oder dasselbe Buch schreibt, jeweils raffiniert verpackt."

Der ENA-Absolvent, der 1983 zum Lehrbeauftragten für Philosophie ernannt wurde und mit einer Arbeit über Diderot und die Metaphysik promovierte, hat anderes im Sinn. Wenn er ein Vorbild hat, dann ist es dort zu finden: unter den Philosophen der Aufklärung und unter den Enzyklopädisten; unter den Geistern, die sich für vielerlei interessieren; unter denen, die Wege betreten, die nicht so gut ausgeschildert sind. "An manchen Tagen", sagt er nach seiner Rückkehr aus dem Libanon, wo sein Stück Enigma gespielt wurde, bei dessen Uraufführung in Frankreich Alain Delon und Francis Huster mitwirkten, "überkommt mich ein Gefühl der Schizophrenie. Ich lebe in Dublin, in einem Haus im viktorianischen Stil, das auf einen Garten hinausgeht, den ich niemals betrete. Dort schreibe ich. Dort ist meine Zelle, meine Werkstatt. Dorthin kehre ich zwischen zwei Reisen zurück. Die Reisen sind in den letzten Jahren immer zahlreicher geworden, denn meine Stücke werden in fünfunddreißig Ländern aufgeführt, und ich mag es sehr Aufführungen meiner Stücke in zuweilen ganz unerwarteten Welten zu sehen. Aber dort bin ich nicht zu Hause, und jenes sehr tiefe, sehr alte Gefühl überkommt mich oft wieder, jenes Gefühl, das der hat, der nirgendwohin gehört, kein Land seine Heimat nennen kann."

Éric-Emmanuel Schmitt wurde am 28. März 1960 in Sainte-Foy-Lès-Lyon geboren und wuchs dort auf. Vor kurzem erschien ein sehr schönes Buch, Guignol aux pieds des Alpes, in dem er die Landschaften und den Charakter der Menschen dieser Gegend beschreibt. Schon als Kind fühlte er, daß er anders sei als die anderen. "Ich wurde als jemand Fremdes wahrgenommen. Ich sah mich immer nur als eine Rassenmischung, als jemand mit Wurzeln in Martinique, Vietnam und sogar im Kaukasus. Ich war von woanders." Er glaubt, daß sein Sinn für Humor daher stammt. "Ich fühlte mich wie im Exil. Das erste Exil freilich ist der eigene Körper. Ich hatte Mühe, mir meinen Körper zu eigen zu machen - von nichts anderem handelt mein Stück Als ich ein Kunstwerk war. Wenn ich Dramatiker geworden bin, wenn ich jemand bin, der Worte in den Körper anderer legt, dann ist das vielleicht  auf diesen entscheidenden Punkt zurückzuführen." Pavese sprach von einem Handwerk des Lebens. Éric-Emmanuel Schmitt weiß das, er steht erst am Anfang. Seit zwölf Jahren ist er als Autor tätig, ist jetzt zweiundvierzig. Das Leben liegt noch vor ihm. "Schreiben, das ist eine unausweichliche Bestimmung. Es ist ein Marathon, den man im Sprint zurücklegt. Oft tue ich so, als lebte ich. Schreiben heißt aber außerhalb des Lebens stehen, auch wenn das ganze Leben in das Geschriebene einfließt -"

Armelle Héliot

La Croix - 2000 - Was ich schreibe, geht über meinen Verstand

Dieser junge Dramatiker, Romancier und ehemalige Philosoph-Dozent häuft Erfolg auf Erfolg - jüngstes Beispiel: sein Roman Das Evangelium nach Pilatus (Albin Michel), in dem er die Heilige Schrift mit Kühnheit neu interpretiert. Eine Kühnheit, die nicht zuletzt mit einer vor elf Jahren gemachten spirituellen Erfahrung zusammenhängt.

Interview : A. LESEGRETAIN (7. Oktober 2007)

AL : Als Sie Ihre Arbeit über Diderot schrieben, ahnten Sie da, daß er Sie zur Metaphysik hinführen würde?

EES : Nein. Als einer, der die französische Sprache über alles liebt, konnte ich mir nicht vorstellen, eine Arbeit über einen ausländischen Philosophen zu schreiben. Und dann gefiel mir inmitten so vieler anderer, oft unumstößlicher Denker der bescheidene und paradoxe Diderot, der nicht zögerte einzugestehen: "Ich schlafe ein und bin dafür, ich wache auf und bin dagegen." Ich zähle ihn mit Montaigne und Lukrez zu den ‚Rittern des Ungewissen‘, das heißt zu den ehrlichsten Denkern überhaupt.

Diderot ist ein Libertin im philosophischen Sinn: er flirtet mit den Ideen, bindet sich aber nicht. Nun, in Paris IV, hatte ich mir Claude Bruaire (1985 verstorben) als Doktorvater ausgesucht, nicht nur weil er ein brillanter Philosoph war, sondern auch einer der wenigen christlichen Philosophen. Auch um ihn zu provozieren, wollte ich eine Arbeit über einen Materialisten schreiben! Diderot lehnt schon den Begriff Gott ab, da ja für ihn, wie für die meisten Philosophen der Aufklärung, der Begriff Metaphysik nicht existiert.

AL : Was hat Sie Diderot vor allem gelehrt?

EES: Die Freiheit und die Tugend des Aneckens. Den anderen zum Denken, zum Mitreden anzuregen. Nichts anderes versuche ich durch meine Stücke zu erreichen. Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich den Zuschauern am Ende gerne eine lange Nase ziehe: sie sollen zweifeln, sollen diskutieren.

AL : Auch Ihre Figuren lassen Sie zweifeln ...

EES : Ich setze Philosophen gerne Schachmatt. Im Besucher wird Freud dazu gebracht, an seinem Atheismus zu zweifeln. Im Freigeist sieht sich Diderot aufgrund der Widersprüche, in die er sich verstrickt, außerstande, seinen Artikel für die Enzyklopädie zu beenden. - Nachdem mich diese großen Philosophen so sehr erschüttert haben, ist es nun an mir, sie ein wenig aus dem Gleichgewicht zu bringen!

AL : Wie sind sie bei der Niederschrift Ihres Evangeliums nach Pilatus vorgegangen?

EES : Ich hatte mich über acht Jahre damit beschäftigt, war aber mit meinen Versuchen nie zufrieden gewesen. Dann wurden mir im Januar mein Computer und die Disketten gestohlen. In meiner Not begann ich einfach draufloszuschreiben, ohne abzusetzen: in zwei Monaten war alles fertig.

AL : Was wollten Sie mit diesem Buch zeigen?

EES : Ich wollte die beiden Grundpfeiler des Christentums beleuchten: die Fleischwerdung und die Auferstehung. Im ersten Teil des Buchs wird daher die seit Jahrhunderten von Theologen diskutierte Frage aufgeworfen, ob Jesus bereits von Geburt an um sein Messiastum wußte oder ob er sich dessen erst nach und nach bewußt wurde. Ich ließ Jesus selbst zu Wort kommen und konnte so zeigen, wie er nach und nach zu seiner Bestimmung fand. Somit brauchte ich auch Maria und Mariä Verkündigung keine so große Bedeutung beilegen, und ich konnte das Leiden eines Menschen zeigen, der von Liebe spricht und Haß erntet. Ich wollte seinen Mut herausstellen; nicht nur den, das Kreuz auf sich genommen zu haben, sondern auch den, seiner Mission bis ans Ende treu geblieben zu sein.

In den Worten: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen" klingt die unermeßliche Verzweiflung desjenigen an, der, obwohl er so viele falsche Propheten gesehen hat, nicht mehr weiß, ob er nicht auch selber einer ist. Bis zum Ende weiß er nichts mit Sicherheit. In dem Sinne ist die Fleischwerdung kein Rätsel, das eine Lösung erfährt, sondern recht eigentlich ein Mysterium.

AL : Und warum haben Sie sich für Pontius Pilatus entschieden, um im zweiten Teil über die Auferstehung zu schreiben?

EES : Weil er uns am meisten ähnelt: seine Überlegungen sind politisch, seine Reaktionen von sicherheitspolitischen Interessen bestimmt, und er hat absolut keine Lust, sich durch diesen Vorfall behelligen zu lassen. Er und kein anderer mußte also die Untersuchung zum Verschwinden von Jesu Leichnam führen.

AL :Aber es gehört schon eine gewisse Portion Dreistigkeit dazu, um Gott in Szene zu setzen oder Jesus in der ersten Person sprechen zu lassen! Als ob sie zur Allmacht des Schriftstellers die des Schöpfers hätten hinzufügen wollen.

EES : Mich interessiert nicht die Allmacht Gottes, sondern seine Ohnmacht: Gott leidet darunter, daß die Menschen statt dem Guten das Böse wählen. Außerdem ist es nicht so, daß ich mir meine Themen auswähle: sie drängen sich mir auf. Und auch wenn sie mir Angst machen, kann ich nicht anders, ich muß darüber schreiben. Ich bin nur ein Seismograph, der die Schwingungen der Zeit erfaßt.

AL : Müssen wir also diesen Gott wiederentdecken, der es nicht vermag, die Herzen der Menschen zu gewinnen?

EES : Ich weiß nicht. - Sagen wir einmal so: Durch diesen Roman wollte ich erreichen, daß Atheisten die Frage nach Jesus wieder an sich heranlassen, daß sie, wie Pilatus, gezwungen sind, Stellung zu beziehen. Ich wollte außerdem im Spiegel des Romans meine Vorstellung vom Christentum vermitteln.

AL : Sie haben, glaube ich, eine starke spirituelle Erfahrung gemacht. Wie ist das vor sich gegangen?

EES : Ich war mit Freunden ins Hoggargebirge aufgebrochen. Wir hatten den Tahat bestiegen, den höchsten Gipfel, und ich wollte als erster wieder hinab. Bald merkte ich, daß ich nicht auf dem richtigen Weg war, trotzdem ging ich weiter, unwiderstehlich von der Idee angezogen, mich zu verlaufen. Als es Nacht wurde und kalt, grub ich mich, da ich sonst nichts hatte, in den Sand ein. Obwohl ich eigentlich hätte Angst haben müssen, war diese Nacht in der Einsamkeit unter dem Sternengewölbe wunderbar. Ich hatte das Gefühl des Absoluten, verspürte die Gewißheit, daß eine Ordnung, eine Intelligenz über uns wacht und daß ich in dieser Ordnung geschaffen, gewollt worden bin. Und da waren meine Gedanken von diesen Worten durchdrungen: ‚Alles ist gerechtfertigt‘.

AL : Wie haben Sie diese Worte aufgefaßt?

EES : Es war eine Antwort auf alle meine Fragen über das Böse. Ich brauchte keinen Anstoß mehr an dem zu nehmen, was ich nicht verstand. Ich konnte den Tod als eine gute Überraschung akzeptieren. - Diese Nacht war auch eine Erfahrung von Ewigkeit. Dieser Augenblick, der sich endlos auszudehnen schien, hat mich unglaublich stark gemacht; denn ich weiß jetzt, daß es, um es einmal mit den Worten des heiligen Augustinus zu sagen, in meinem Innern mehr als nur ich gibt. Diese mystische Nacht bleibt eine grundlegende Erfahrung.

AL : Vergleichbar also mit dem ‚inneren Brunnen‘, zu dem der Jesus in Ihrem Buch zurückkehrt, um Kraft zu schöpfen?

EES : Dieses Bild vom Brunnen, den man in sich selbst findet, scheint mir einer solchen Erfahrung gut zu entsprechen. Doch offen spreche ich darüber erst seit kurzem. Ehrlich gesagt, als ich wieder mit meinen Freunden zusammentraf, morgens darauf, da schämte ich mich dafür, Ihnen durch mein Verschwinden Angst eingejagt zu haben, und ich hatte nicht den Mut, meine Freude mit ihnen zu teilen.

AL : Wissen Sie noch das Datum dieser Nacht?

EES : Es war der 4. Februar 1989. Von dem Tag an konnte ich schreiben. Was ich bis dahin geschrieben hatte, kam mir hohl und leer vor. Kurze Zeit darauf verfaßte ich mein erstes Stück, La Nuit de Valognes, und seitdem habe ich praktisch nicht mehr aufgehört zu schreiben. In dieser Nacht in der Wüste wurde mir klar, wozu ich auf der Welt bin: um ein Schreiber zu sein.

AL : Jemand der nach dem Diktat eines anderen schreibt?

EES : Sagen wir einmal so: Was ich schreibe, geht über meinen Verstand.

AL : Wie sah Ihre religiöse Erziehung vor dieser grundlegenden Nacht aus?

EES : Ich wurde aus gesellschaftlichen Rücksichten getauft, meine Familie war atheistisch. Dennoch meldeten mich meine Eltern, als ich elf Jahre alt war, zum Religionsunterricht an: "Du solltest diese Geschichte immerhin kennen!", sagten sie mir einfach.

Mit dem Schulgeistlichen, Pater Ponce - er hat nichts mit meinem Evangelium nach Pilatus zu tun - diskutierten wir über gesellschaftliche Fragen. Zum ersten Mal respektierte ein Erwachsener meine Meinung. Keine Frage, durch ihn fand ich Gefallen am philosophischen Diskurs, auch wenn ich nach einem Jahr nicht viel von der biblischen Geschichte verstanden hatte.

Diese Anfänge von Katechese wurden völlig zunichte gemacht, als ich begann Nietzsche, Sartre und Freud zu lesen. - Später, als ich Descartes, Kierkegaard, Leibniz und vor allem Pascal entdeckte, wurde mein Atheismus erschüttert und ich wurde Agnostiker.

AL : Das war schon ein Stückchen Weg!

EES : Die Frage nach dem Sinn ließ mir einfach keine Ruhe: Warum gibt es mich? Warum das Böse? Ich gebrauchte einzig meinen Verstand und blieb auf der Schwelle stehen. Ich wußte, daß es möglich sei zu glauben, doch ich ärgerte mich über das anscheinend elitäre System des Glaubens, das meinen universalistischen Idealen als Philosoph widersprach.

AL : Und können Sie heute glauben?

EES : Ja, ich wage es zu sagen, auch wenn die gläubigen Schriftsteller immer seltener werden: ich glaube.

AL : An Christus?

EES : Meine spirituelle Erfahrung bezog sich nur auf Gott. Aber alle meine Überlegungen, die sich daran anschlossen, waren ein Nachdenken über Christus als "Chiffre", um den Ausdruck von Pascal zu gebrauchen, das heißt, über Christus als Schlüssel, mit dem alles dekodiert werden kann.

Doch es kommt vor, daß ich an ein und demselben Tag Gefühle des Angezogenseins und des Abgestoßenseins empfinde. Ich bin verblüfft über die Welt, wie sie ist: Wie kann man verstehen, daß die Gottes Gebote noch immer nicht befolgt werden? Daß ein Volk, das sich christlich nennt, immer noch an der Todesstrafe festhält?

AL : Und sind Sie die Pascalsche Wette eingegangen?

EES : Nein, nicht wirklich. In mir gibt es sozusagen immer noch zwei "Schichten": der Philosoph an der Oberfläche glaubt nicht, doch der Gläubige wirkt aus der Tiefe auf ihn ein, interpretiert die Geschichte, bekräftigt seine Gewißheiten. Wenn ich zweifle, dann innerhalb Gottes, nie außerhalb Gottes. Aus Sorge um das Wort widerstrebt es mir, einen endgültigen Sprung zu tun: das Wort des Philosophen, das "teilt", ist nicht das Wort des Mystikers, das "bezeugt". In diesem Spannungsfeld bewege ich mich zurzeit. Und da Pascal Philosoph geblieben ist, kann ich mit ihm ein Stück des Weges weitergehen.